Ten Candles von Stephen Dewey ist ein Rollenspiel, das im tragischen Horror angesiedelt ist. Im Gegensatz zu vielen anderen Systemen – das genremäßig näheste wäre wohl Call of Cthulhu – eignet es sich aber nur für One Shots und nicht für lange Kampagnen. Warum das so ist, sollte sich aus der folgenden Beschreibung ergeben.
Hintergrund
Der Hintergrund, vor dem das Spiel stattfindet, ist relativ offen. Tatsächlich stehen nur zwei Dinge fest:
- Vor 10 Tagen wurde die Welt dunkel. Nach der Nacht, folgte nicht wie gewohnt der Tag, sondern es blieb Nacht. Schlimmer noch: Selbst der Mond und die Sterne waren nicht mehr zu sehen.
- Vor 5 Tagen kamen „Sie“ und begannen die Menschen zu jagen
Ansonsten ist der Hintergrund völlig offen. Normalerweise spielt man in einer Welt, die der Erde in der Gegenwart entspricht. Man kann aber auch problemlos Spiele im Zeitalter der Wikinger, in einer Fantasywelt oder auf einem Raumschiff in ferner Zukunft spielen.
Auch wer „Sie“ sind, ist völlig offen und kann sich von Spiel zu Spiel unterscheiden. Tatsächlich wird es sich von Spiel zu Spiel unterscheiden, denn während der Charaktererschaffung hat ein Spieler die Macht, einen einzigartigen Fakt über „Sie“ festzulegen, nämlich in Form von Wissen, welches nur dieser eine Charakter über „Sie“ hat. Das können Dinge sein wie „Ich sah, wie ‚Sie‘ das Blut eines Menschen tranken“ (wenn man das Spiel in Richtung Vampire lenken möchte), oder „Ich sah, wie ‚Sie‘ an Wänden und Decken laufen konnten, wie auf normalem Boden“. Der Fantasie sind hier allerdings keine Grenzen gesetzt, und es muss nicht in Richtung der bekannten Klischees gehen.
Tragisches Horror-Rollenspiel?
Ja genau. Tragisches Horror-Rollenspiel. Auch wenn Survival-Horror momentan total in ist, grenzt sich dieses Genre durch einen entscheidenden Fakt vom Survival ab. Am Ende werden alle sterben!
Oh, habe ich jetzt gespoilert und das Ergebnis jeder Ten Candles Runde verraten? Jein. Zum Einen steht es fest, dass am Ende alle sterben werden. Das sollen, nein, müssen die Spieler sogar wissen. Ihre Charaktere wissen das natürlich nicht. Die Kunst ist es, eine Horrorgeschichte zu erzählen, bei dem das Ende fest steht, in der die Charaktere aber dennoch Hoffnung haben und um ihr Überleben kämpfen.
Damit sollte dann auch klar sein, warum es für längere Kampagnen ungeeignet ist.
Und was soll das mit den Kerzen nun?
Der Spielaufbau unterscheidet sich ebenfalls von anderen Rollenspielen. Benötigt werden folgende Dinge:
- 10 Teelichter
- Eine feuerfeste Schüssel
- Pro Spieler 5 Karteikarten
- Ein paar Stifte
- 10 sechsseitige Würfel
- ein paar zusätzliche sechsseitige Würfel, die sich farblich von den 10 anderen unterscheiden
- Einen Raum, der möglichst komplett abgedunkelt werden kann
- Ein (Audio-)Aufnahmegerät (Smartphone reicht völlig)
Die Schüssel wird in die Mitte auf den Tisch gestellt und dann die Teelichter im Kreis um diese herum aufgestellt.
Während der Charaktererschaffung werden die Kerzen angezündet, und damit kommen wir zu einem wichtigen Konzept: Jede dieser 10 Kerzen steht für eine Szene im Spiel. Erlischt eine Kerze (aus welchem Grund auch immer), endet die aktuelle Szene. Es werden keine Kerzen wieder angezündet!
Brennt nur noch eine letzte Kerze, ist die Zeit für die Charaktere gekommen, zu sterben.
Ok, wie funktioniert das ganze dann?
Ten Candles ist ein Zero-Prep-System. Das bedeutet der Spielleiter muss absolut nichts vorbereiten. Naja, eventuell ein kurzes Setting heraussuchen, aber das sind ca. 5 Minuten. Einigt sich die Gruppe vor Spielstart auf eines der im Buch aufgeführten Settings, dann liegt die Vorbereitung wirklich bei Null.
Der Aufbau ist ja oben schon beschrieben. Los geht es mit der Charaktererschaffung.
Keine Angst, wer jetzt glaubt man müsse sich wie in anderen Systemen nun stundenlang eine ausgeklügelte Hintergrundstory für seinen Charakter ausdenken und dann besonders ausgeklügelt Attributwerte verteilen, der sei beruhigt. Die Erschaffung der gesamten Gruppe dauert ein paar Minuten.
Jeder Charakter definiert sich nämlich nur aus vier Werten. Einer positiven Eigenschaft (schlau, kräftig, attraktiv, …), einer negativen Eigenschaft (unsportlich, ungeschickt, …), einem Moment, der ihm Hoffnung gibt (wenn ich meine Schwester wiederfinde, wenn einer von „Ihnen“ tot zu meinen Füßen liegt, …) und einem dunklen Geheimnis (hat einen Freund zum Sterben zurück gelassen, …). Diese werden auf je eine Karteikarte geschrieben und bilden so den Charakter. Außerdem schreiben die Spieler auf eine gesonderte Karte, wie der Charakter heißt, seinen Beruf und was die anderen Charaktere sehen, wenn sie den Charakter ansehen.
Ein Spieler darf nun noch den Fakt über „Sie“ bestimmen und dem Spielleiter verdeckt zukommen lassen. Damit ist die Charaktererschaffung schon beendet.
Falls ihr euch die ganze Zeit fragt, wozu das Aufnahmegerät da sein soll: Das kommt jetzt ins Spiel. Denn zu Beginn des Spiels nimmt jeder Spieler eine letzte Botschaft seines Charakters auf, für den Fall, dass er nicht überlebt.
Nun beginnt die erste Szene. Der Spielleiter erzählt, was die Ausgangssituation ist oder liest diese vor. Wo in anderen Spielen der Spielleiter oft entscheidet, was funktioniert und was nicht, macht auch Ten Candles die Sache etwas anders. Immer, wenn die Spieler etwas versuchen, von dem der Ausgang nicht feststeht („Ich schaue in eine Kiste“, „Ich öffne die Tür zum Gang“) legen sie einen Konfliktwurf ab. Da die Charaktere keine Attribute besitzen, sehen diese Proben immer gleich aus, und zwar würfeln sie so viele Würfel, wie Kerzen brennen. Jede 6 ist ein Erfolg und der Spieler braucht mindestens eine 6, damit die Probe erfolgreich ist. Ist das der Fall geht das Erzählrecht an den Spieler. Er darf also erzählen, was er in der Kiste findet, oder was auf dem Gang passiert. Noch eine Besonderheit: Jede 1 wird aus dem Würfelpool für den Rest der aktuellen Szene entfernt. Es wird also auf Dauer schwieriger noch 6en zu würfeln, da die Würfel im Laufe der Szene weniger werden.
Ist die Probe nicht erfolgreich geht das Erzählrecht an den Spielleiter. Er erzählt nun, was der Charakter in der Kiste findet oder was auf dem Gang passiert. Das hat aber noch einen Effekt: Sobald eine Probe nicht erfolgreich ist, endet die aktuelle Szene und eine Kerze wird gelöscht.
Dann werden reihum neue Wahrheiten etabliert. Der Spielleiter beginnt mit den Worten: „Diese Dinge sind wahr: Die Welt ist dunkel.“. Für jede noch brennende Kerze darf nun reihum jeder Spieler (auch der Spielleiter!) etwas nennen, was von da an als Wahr gilt, wobei der Spieler, der den Wurf gemacht hat beginnt. Er kann zum Beispiel sagen „wir finden eine Taschenlampe“ oder „das tobende Gewitter lässt nach“. Jeder darf dabei nur eine Wahrheit auf einmal etablieren (also nicht „wir finden eine Taschenlampe mit vollen Batterien“), aber die Wahrheiten dürfen sich aufeinander beziehen. Der nächste Spieler darf also durchaus sagen „…und die Batterien sind noch voll“. Ebenso dürfte der Spielleiter aber auch an dieser Stelle sagen „…aber die Batterien sind leer“. Man darf jedoch keine Wahrheiten, die bereits etabliert sind, wieder rückgängig machen. Hat also der zweite Spieler bereits gesagt, dass die Batterien voll sind, darf auch der Spielleiter nicht mehr sagen, dass die Batterien leer sind. Einzige weitere Regel: kein Spieler darf Wahrheiten über „Sie“ oder die anhaltende Dunkelheit etablieren. Dies ist einzig die Domäne des Spielleiters.
Brennen mehr Kerzen als Spieler (+Spielleiter) anwesend sind, wird eine weitere Runde gestartet. In unserem Beispiel werden also 9 Wahrheiten etabliert (weil noch 9 Kerzen brennen), wobei die letzte Wahrheit immer sein muss „Und wir sind am leben!“. Dies wird von allen Spielern gleichzeitig gesagt.
Nun beginnt die zweite Szene. Die in Szene 1 gewürfelten Einsen werden wieder in den Würfelpool zurück gelegt, jedoch würfeln die Spieler ihre Proben nun nur noch mit 9 Würfeln (wir erinnern uns: Ein Würfel pro brennender Kerze). Die Würfel für die erloschenen Kerzen bekommt der Spielleiter, und ab jetzt sind alle Würfel konkurrierend. Reichte es in der ersten Szene aus mindestens eine 6 zu würfeln, muss man nun mehr Sechsen würfeln als der Spielleiter, um das Erzählrecht zu behalten.
Würfelt man mindestens eine 6, ist der Wurf zwar immer noch in jedem Fall erfolgreich, würfelt der Spielleiter allerdings genauso viele oder mehr Sechsen, darf er erzählen, was passiert. Weiterhin werden gewürfelte Einsen der Spieler aus dem Pool entfernt.
So geht das ganze dann weiter. Im Laufe der Szenen wird es durch die kleiner werdende Anzahl der Würfel natürlich immer schwieriger Proben zu schaffen, und auch der Erzählanteil verändert sich stark. Dürfen zu Beginn oft die Spieler die Ergebnisse von Aktionen bestimmen, fällt diese Aufgabe immer mehr dem Spielleiter zu.
Es gibt noch einen weiteren Effekt: Dadurch, dass immer mehr Kerzen erlöschen, wird es immer dunkler, was die Atmosphäre der sich langsam zuziehenden Situation der Charaktere noch verstärkt. Allerdings ist nicht alle Hoffnung verloren: Im laufe des Spiels können die Charaktere ihre Charakterwerte (die Karteikarten) verbrennen um Würfel neu zu würfeln. Sie müssen dabei die Eigenschaft, die auf der Karte steht, irgendwie in die Aktion einbauen. Die helle Flamme beim Verbrennen der Karte symbolisiert, wie die Hoffnung noch einmal aufleuchtet, bevor es wieder dunkel wird.
Brennt nur noch eine Kerze ist die einzige Wahrheit, die etabliert wird, das von allen gesprochene „Und wir sind am leben!“. Jetzt ist die Zeit gekommen, die Charaktere spektakulär und dramatisch sterben zu lassen. Ganz wichtig: Nur in dieser letzten Szene sollten Charaktere sterben. Eine verpatzte Probe führt in dieser Szene dazu, dass der Charakter stirbt, allerdings nicht, dass die Szene endet. Dies passiert erst, wenn alle Charaktere tot sind. Ist dies der Fall wird die letzte Kerze gelöscht, der Spielleiter sagt „Diese Dinge sind wahr: Die Welt ist dunkel!“. Dann werden die aufgezeichneten Botschaften abgespielt, womit das Spiel auch endet.
Krasses Pferd! Wo kriege ich das?
Ten Candles ist leider nur auf englisch verfügbar. Die pdf gibt es für derzeit 10$ bei cavalry games. Die Softcover-Variante kostet 28$.
Letzte Worte
Ich habe bisher drei Runden Ten Candles geleitet und bin sehr begeistert von dem Spiel. Allerdings hängt es auch stark davon ab, ob die Spieler sich auf die Atmosphäre einlassen. Gerade die zweite Runde hat sich stark in Richtung Comedy entwickelt und als Spielleiter war es schwer oder sogar unmöglich noch eine entsprechende Horror-Atmosphäre aufzubauen.
Aus der dritten Runde kann ich sagen: Man muss es wirklich am Tisch spielen. Online funktioniert es einfach nicht.